einwort

einwort ist das Magazin der Evangelischen Kirchengemeinde Bottrop. Für jede Ausgabe wählen wir ein Wort, dessen Breite und Länge und Tiefe und Höhe wir ausloten. Wir glauben, dass ein Wort die Seele gesund machen kann. Auf der Suche nach den richtigen Wörtern erzählt einwort von Gott und der Welt. Denn am Anfang von allem war das Wort, und das Wort war bei Gott.

Bei Anruf – Familie!

von Ev. Kirchengemeinde Bottrop

2017 lebten deutschlandweit 81.000 Kinder in Pflegefamilien, weil sie zeitweise oder dauerhaft nicht bei ihren eigenen Eltern bleiben können. Wir haben eine Familie mit zwei Pflegekindern in Bottrop besucht.

Melina (8) und Chantal (21) sitzen in der Küche am Tisch. André Ehlert (51) und seine Frau Sabine (49) setzen sich dazu, es gibt Apfelschorle, die Mädchen giggeln. Der Reporter ist da. Aufregend. In der offenen und hellen Wohnküche des Reihenmittelhauses steht eine Schale mit frischem Obst, im Wohnbereich wartet ein Klavier darauf, dass ihm Töne entlockt werden. Die Atmosphäre ist wohlwollend gespannt, denn was will jemand von einer offensichtlich ganz normalen Familie, die rein rechtlich eine Pflegefamilie ist? Er will wissen, wie das so ist als Pflegefamilie. Warum sich zwei Menschen dafür entscheiden, wie die Öffentlichkeit ihnen begegnet, wie es den Kindern geht. Ganz normale Fragen. „Wir wollten immer Kinder haben, aber es hat einfach nicht funktioniert“, beginnt Sabine Ehlert das Gespräch. Herrlich unverblümt. Ein Stil, der sich durch das gesamte Gespräch ziehen wird und den jeder Teilnehmer am Tisch gleichermaßen für sich beansprucht. Direktheit ist hier Trumpf.

Eine Familie wie aus einem Guss

22 Jahre ist es her, dass die Ehlerts sich beim Jugendamt in ihrem damaligen Wohnort Essen meldeten und ihr Ziel gleichsam klar formulierten: „Wir wollten Adoptiveltern werden.“ Die Wartezeit für einen Säugling betrug damals sechs Jahre. „Wenn man dann bereits ein paar Jahre Kinderwunsch hinter sich hat, möchte man nicht weitere sechs Jahre warten“, erklärt Sabine Ehlert. Also schlug das Jugendamt vor, dass sich die Ehlerts als Pflegeeltern bewerben könnten, da sei die Wartezeit nicht so lang. Gesagt, getan. Es folgten mehrere Wochenendseminare, die auf die mögliche Pflegeelternzeit vorbereiteten, Besuche beim Amtsarzt, Termine mit einem Psychologen. Wer sich entschließt, Pflegekinder aufzunehmen, wird auf Herz und Nieren geprüft. Zusätzlich mussten die Ehlerts Fragebögen über das potenzielle Wunschkind ausfüllen: Alter, Hautfarbe, Haarfarbe. „Wir fanden das ehrlich gesagt ziemlich albern“, ergänzt sie, aber was tut man nicht alles, wenn sich die Natur weigert. Nach all den Formalitäten dauerte es tatsächlich nicht mehr lange, bis sich das Amt meldete. Und dann müssen die Dinge mitunter schnell gehen. Gar nicht so einfach, wenn beide Eltern in spe berufstätig sind und keine Schwangerschaft unübersehbar die Zeichen der Zeit ankündigt. „Vor 22 Jahren gab es noch keine Elternzeit für Pflegeeltern, da musste ich wirklich kündigen, obwohl ich einen erstklassigen Job mit 14 Monatsgehältern hatte. Aber der Kinderwunsch war einfach zu groß.“

Chantal befand sich damals in einer Bereitschafts-Pflegefamilie – eine ganz besondere Form der Pflegefamilie, die sich bereit erklärt, auch innerhalb von Stunden ein Kind in Not für eine vergleichsweise kurze Übergangszeit aufzunehmen. Die ersten fünfeinhalb Monate lebte Chantal noch bei ihrer leiblichen Mutter, die Umstände zwangen das Amt dann zum Wechsel in diese Bereitschaftsfamilie. Nach weiteren dreieinhalb Monaten kamen die Ehlerts ins Spiel. In ständiger Begleitung durch das Jugendamt lernten André und Sabine Ehlert die nun neun Monate alte Chantal kennen. Ein Baby, das in den ersten Lebensmonaten bereits grundlegende Bindungswechsel erleben musste. Es gab einige Treffen bis zum Tag X, an dem aus den kinderlosen Eheleuten schließlich eine kleine Pflegefamilie wurde. Und während andere neun Monate Zeit haben, sich mental wie organisatorisch auf die familiäre Erweiterung vorzubereiten, geht es hier um Tage, im besten Fall um wenige Wochen.

Bundesweit suchen die Jugendämter nach Pflegefamilien. Der Bedarf ist hoch, die Zahlen steigen. Zugleich ist die Verantwortung für die Behörde hoch, auch die richtigen Familien auszuwählen. Nicht jedes Paar, das sich meldet, wird später Pflegefamilie. Die Vorab-Checks wollen und sollen wirklich prüfen, welche Motivation hinter der Idee steckt. Gerade weil das Vorurteil Pflegefamilien nur zu häufig finanzielle Beweggründe unterstellt. Ja, Pflegefamilien erhalten eine finanzielle Unterstützung, wenn es sich um notwendige Ausgaben handelt, die mit der Betreuung des Kindes verbunden sind. Dazu zählt ein Pflegegeld, das sich an dem Alter des Kindes orientiert und zwischen 770 und 974 Euro beträgt. Die Höhe des Pflegegeldes variiert je nach Bundesland und Kommune. „Wir haben tatsächlich schon Kommentare gehört wie: Das ist aber ungerecht – ich krieg ja für mein Kind auch kein Geld. Da fällt uns dann auch nichts mehr zu ein“, erzählt André Ehlert. Auf der anderen Seite wird dem Paar immer wieder Respekt ausgesprochen, eine solch wertvolle Aufgabe zu übernehmen. Und das ist auch die Regel.

Seit 2001 wohnen die Ehlerts in Bottrop

Der Kontakt zum Jugendamt ist eng – auch das bestimmt den Alltag einer Pflegefamilie. Behördengänge, Prüfungen, Dokumente. Während sich das Leben zu einem routinierten Alltag einpendelt, bleibt die Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, die auch dafür sorgt, dass alle paar Wochen der nächste offizielle Termin im Kalender steht. Derweil wuchs die Pflegefamilie weiter zusammen, Besuchskontakt zu ihrer leiblichen Mutter hatte Chantal nicht. Es folgten Kindergarten, Grundschule und die weiterführende Schule. Und die Gewissheit der Pflegeltern, dass sie ursprünglich eine größere Familie planten. Sie wollte zwei oder drei Kinder, er eins oder zwei. Also sprachen sie erneut mit dem Jugendamt und alles ging von vorne los. Schließlich kam eine Mitarbeiterin des Bottroper Jugendamts zu den Ehlerts und unterhielt sich mit ihnen vor Ort über die Möglichkeit, ein weiteres Kind aufzunehmen. Wenige Monate später klingelte dann das Telefon: „Frau Ehlert, wollen sie wirklich noch ein Kind? Wir haben derzeit ein kleines Mädchen, vier Wochen alt. Sprechen sie bitte mit ihrem Mann darüber!“ Die Ehlerts sprachen miteinander, am nächsten Morgen rief sie beim Jugendamt an. „Wir gingen damals zu der Bereitschaftspflege, und da war dann dieser süße kleine Wurm“, erinnert sich Sabine Ehlert. Melina kontert von der anderen Seite des Küchentischs: „Ich bin kein Wurm!“ Die Vier lachen herzlich miteinander. Mitte April kam die wenige Wochen alte Melina zu den Ehlerts und komplettierte das Pflegefamilien-Quartett.

Es ist ein fast ganz normales Leben, im Reihenhaus, mit Jahresurlaub, Geburtstagen, Schule und Alltag. Fast, würde Chantal nicht diffuse Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Das Lernen fiel ihr schwer, sie hat viel vergessen, das Lesen der Uhr war und ist ein Problem. Die Ehlerts gingen von einem Arzt zum anderen. „Sachen, die mich interessieren, die kann ich mir über Jahre merken. Alles andere ist sofort wieder weg“, sagt Chantal über sich selbst. Sie ist eine charmante junge Frau. Witzig, wortgewandt, im besten Sinne unauffällig. „Chantal kann sich hyperfokussieren“, erklärt Sabine Ehlert. Die Ärzte tappen lange im Dunkeln, bis erst 2016 erste Anzeichen auf FASD hinweisen. FASD steht für Fetale Alkoholspektrum-Störungen.

Wer sich entschließt, Pflegekinder
aufzunehmen, wird auf Herz
und Nieren geprüft.


Trinkt die werdende Mutter Alkohol, kann das beim Ungeborenen zur Schädigung des Gehirns, des zentralen Nervensystems und weiterer Organe führen. Das weiß im Grunde jeder, bloß nehmen viele das Risiko nicht ernst. Erst 2019 erhielt Chantal die endgültige Diagnose. „Ich kann vieles nicht, was andere in meinem Alter längst können. Das wird auch dazu führen, dass ich nie in einer eigenen Wohnung ohne irgendeine Betreuung leben kann, das geht einfach nicht.“ Chantal spricht ganz offen über ihre Diagnose. Sie hat trotz allem den Realschulabschluss geschafft und arbeitet heute auf dem Rotthoffshof in Kirchhellen, eine Einrichtung des Diakonischen Werks Gladbeck-Bottrop-Dorsten. „Ich bin dort die Frau hinter den Therapiestunden, mache die Ställe der Pferde sauber, füttere die Tiere, halte das Lederzaumzeug in Schuss.“ Es ist Chantal außerordentlich wichtig, dass wir in diesem Artikel auf die Gefahren hinweisen, die der Alkoholkonsum während der Schwangerschaft verursacht. „Jeder Tropfen Alkohol ist zu viel“, sagt sie. Und Sabine Ehlert ergänzt: „Dies ist die einzige Behinderung, die zu 100% vermeidbar wäre!“

Währenddessen spielt Chantal mit ihrer kleinen Schwester, nimmt sie in den Arm, verteilt Küsse. „Ich geb‘ dich nicht mehr her, auch wenn du mich manchmal nervst“, sagt sie zu Melina und die erwidert: „Und ich geb‘ dich nicht mehr her!“ „Zwischen den beiden ist ganz große Liebe“, ergänzt Sabine Ehlert. Papa Ehlert schüttet neue Apfelschorle ins Glas. Die beiden betrachten ihre Pflegekinder. Es ist Familienidyll pur. Kinder verweilen durchschnittlich 30 Monate in ihrer Pflegefamilie. Chantal ist nun 20 Jahre hier, Melina acht. Während Chantal keinen Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter wünscht, wohl aber ihre leiblichen Geschwister kennt, traf Melina ihre Mutter 2019 erstmals persönlich. Ihre Bauchmutter, wie sie die leibliche Mutter nennt. „Wir waren dazu im Kaisergarten in Oberhausen, da haben wir uns am Spielplatz kennengelernt. Das zweite Mal waren wir dann beim Jugendamt“, erklärt Melina. Das Jugendamt ist immer dabei. Wie sich ein solches Treffen für die Ehlerts anfühlt, wird nicht thematisiert. Aber die nonverbalen Signale sprechen eine klare Sprache: Leicht ist das nicht!

Vielleicht hilft ihnen bei all dem auch der Glaube

André und Sabine Ehlert sind in ihrer katholischen Gemeinde sehr aktiv, sie singt im Kirchenchor und ist überdies Kommunionkatechetin und Taufkatechetin. Er singt ebenfalls im Chor und ist im Förderverein tätig. Christ sein spielt hier bei den Ehlerts eine wichtige Rolle. Immer. Das stilisierte Holzkreuz über der Wohnzimmertür ist keine bloße Dekoration. Und dann setzt sich Melina ans Klavier und spielt ein paar Töne. Die Drei positionieren sich dahinter und blicken ihr auf die flinken Finger. Das Spiel auf dem Boden wird gleich weitergespielt, und dann ist auch mal langsam Zeit, um ins Bett zu gehen. Der Mann von einwort war lange genug da. Es war ein sehr besonderes Erlebnis, hinter die Kulisse einer Pflegefamilie zu blicken. Und irgendwie so herrlich alltäglich.

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