einwort

einwort ist das Magazin der Evangelischen Kirchengemeinde Bottrop. Für jede Ausgabe wählen wir ein Wort, dessen Breite und Länge und Tiefe und Höhe wir ausloten. Wir glauben, dass ein Wort die Seele gesund machen kann. Auf der Suche nach den richtigen Wörtern erzählt einwort von Gott und der Welt. Denn am Anfang von allem war das Wort, und das Wort war bei Gott.

Vom Ende her denken

von Ev. Kirchengemeinde Bottrop

„Es ist spannend im Moment, und mir ist es ein bisschen zu spannend.“

Ich lese gern Krimis. Eigentlich. Manchmal sind sie mir nämlich ein bisschen zu spannend. Dann tue ich etwas, das man eigentlich nicht tut: Wenn es mir zu aufregend wird, dann blättere ich vor, bis ganz zum Ende. Meistens reichen die letzten zwei Seiten: Dann habe ich ziemlich klar, wer bis zuletzt überlebt, und mit diesem Wissen fällt es mir leichter, das Kapitel, in dem die Hauptperson allein, ohne Handy und Taschenlampe durch einen dunklen Keller schleicht, zu Ende zu lesen.

Ich mag meinen Beruf auch gern, sehr sogar. Eigentlich. Manchmal ist mir auch das Pfarrersein ein bisschen zu spannend. So wie jetzt. Die Gegenwart fühlt sich für mich an wie ein besonders aufregendes Kapitel in der Geschichte unserer Kirche. Die Pandemie scheint abzuebben, und nach fast anderthalb Jahren des fröhlichen Improvisierens hier und gelähmten Nichtstuns dort schlägt die Stunde der Wahrheit: Kommen wenigstens unsere treuen KirchgängerInnen wieder in unsere vorsichtig wieder aufgenommenen Präsenzgottesdienste? Oder haben sie in den Coronamonaten festgestellt, dass es eigentlich ganz schön ist, von zuhause aus den Gottesdienst im Fernsehen oder bei YouTube mitzufeiern? Werden wir wieder zur Tagesordnung übergehen oder bleiben unsere Gemeinderäume leer, weil viele Gruppen und Kreise keine Kraft mehr haben, sich nach monatelanger Abstinenz wieder aufzuraffen? Es war klar, dass diese Fragen irgendwann kommen würden, spätestens dann, wenn die letzten VertreterInnen einer Generation, die noch wie selbstverständlich in die Kirche reingewachsen sind, verschwunden sind. Die coronabedingte Zwangspause sorgt nur dafür, dass dieser Zeitpunkt womöglich schneller kommt als gedacht.

Es ist spannend im Moment, und mir ist es ein bisschen zu spannend. Also mache ich das, was ich beim Krimilesen auch mache, und blättere ein bisschen vor. Auf die letzten Seiten verschiedener Bücher der Bibel, in der Hoffnung, dass ich da etwas lese, das mir Perspektiven für das Hier und Jetzt gibt.

Das erste Ende, das ich mir vornehme, ist das Ende der Tora, der fünf Bücher Mose. In Dtn 34 werden die letzten Tage Moses beschrieben: Kurz vor seinem Tod klettert er auf den Berg Nebo in der Nähe von Jericho. Dort sieht er das ganze Land vor sich, das Gott seinen Vorfahren versprochen hat. Vierzig Jahre lang hat er sein manchmal murrendes Volk durch Wüsten und Gefahren geführt. Das Land darf er noch sehen, aber selbst hineinkommen wird er nicht. Ein trauriges Ende eines tragischen Helden, aber mir macht es paradoxerweise Mut. Es nimmt mir ein wenig die Angst vor den großen Veränderungen: Es kann sein, dass die jetzt Aktiven Veränderungen in der Kirche anstoßen werden, deren vollen Effekt wir nicht mehr erleben werden. Und wie bei Mose wird es ein Exodus sein: Wir werden die Kirche aus mancher bequemen Sicherheit herausführen müssen. Schon jetzt bröckeln rechtliche Privilegien, die wir bislang für selbstverständlich gehalten haben. Der Religionsunterricht an den Schulen, Lobbyisten in den Parlamenten, vielleicht sogar die Kirchensteuer. Und wie die Israeliten werden wir zwischendurch jammern und uns danach zurücksehnen. Aber vielleicht entdecken wir auch, dass uns manche dieser Bindungen unfrei gemacht hat. Und vielleicht werden wir mit einer Waghalsigkeit gesegnet, die etwas verändern kann. Ich stelle mir vor, dass die Kirche den Einfluss, den sie als zweitgrößte Arbeitgeberin des Landes immer noch hat, nutzt, um für gerechte Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Dass sie als Großkundin Versicherungen und Konzerne dazu zwingt, klimafreundlich und fair zu arbeiten. Bei Licht betrachtet, haben wir nichts zu verlieren, was uns der demografische Wandel nicht ohnehin nehmen wird.

Zum Autor:

Dr. Holger Pyka ist Pfarrer der Ev. Kirchengemeinde Uellendahl-Ostersbaum in Wuppertal und Dozent am dortigen Predigerseminar, d. h. Ausbilder für angehende PfarrerInnen.

Als Predigt- und Gottesdienstcoach ist er an der Seite von PfarrerInnen und Kirchengemeinden unterwegs, die sich weiterentwickeln wollen. Zu hören ist Pyka regelmäßig als Autor für Kirche in 1Live.

Am Ende des letzten Kapitels des nächstes Buchs, in Richter 21, heißt es am Ende: „Damals gab es noch keinen König in Israel, und so konnte jeder tun und lassen, was er wollte.“ Das klingt nach Anarchie – oder nach heiligem Chaos, das der schillernden Vielfalt der Welt gerecht wird. Ich würde mir wünschen, dass die Gemeinden viel häufiger das tun und lassen, was sie wollen. Die Gemeinde X sieht endlich ein, dass zehn Menschen im Sonntagsgottesdienst zu wenig sind. Also stellt sie dieses Angebot ein. Stattdessen geht sie raus in den Stadtteil, lädt sich dort ein, wo Menschen zusammenkommen, und bringt Gottesworte und Segen als Gastgeschenk mit: Auf den Pausenhof der Grundschule am ersten Tag nach den Ferien. Im Supermarkt kurz nach Geschäftsschluss. Auf den Parkplatz einer Fabrik kurz nach einem Großbrand. Gemeinde Y kriegt seit zehn Jahren kaum noch ein beschlussfähiges Presbyterium zustande, weil niemand dort wohnt, der sich auf vier bis acht Jahre dazu verpflichten will, monatlich langen Sitzungen beizuwohnen. Also stellt sie ihre ganze Arbeit auf Projekte um, die von Teams geleitet werden. Einmal im Jahr fahren alle Projektverantwortlichen für ein Wochenende ans Meer und erträumen die Gemeindearbeit für das nächste Jahr. In Gemeinde Z ist das Pfarrteam kaum noch arbeitsfähig, weil das hohe Alter der Gemeindeglieder jedem von ihnen vier bis fünf Beerdigungen in der Woche beschert. Also machen sie aus der Not eine Tugend und sich selbst zu einer Profilgemeinde mit dem Schwerpunkt Trauerarbeit. Statt Seniorenkreisen gibt es Trauergruppen und Seminare zur Sterbebegleitung. Kleine Abordnungen der Gemeindechöre singen auf Beerdigungen und aus der Synagogengemeinde leiht man die Idee, dass Menschen aus der Gemeinde Trauernde in der Zeit bis zur Beerdigung mit Essen und praktischen Alltagshilfen unterstützen, damit sie in Ruhe trauern können. Es wäre an den Kirchenämtern, für solche Gemeinden die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Es gäbe noch viele spannende Schlusskapitel in der Bibel. Am Ende des Buchs Nehemia werden die Regeln des Sabbats wieder in Kraft gesetzt, und ich spüre beim Lesen und beim Erinnern an Sabbate in Israel die Energie, die von dieser Vorstellung ausgeht: Eine regelmäßige und absolute Auszeit zu nehmen, 24 Stunden lang nichts zu tun (auch keine Ausschusssitzungen oder Gemeindebriefredaktionstreffen!), um durchzuatmen und sich neu auszurichten. Am Ende des Jesajabuchs stehen große Friedensvisionen, von Löwen, die mit den Schafen Stroh fressen. Sie machen mir Mut, auch auf das Unmögliche zu vertrauen. Am Ende des Matthäusevangeliums steht das Versprechen Jesu: „Ich bin bei euch, alle Tage, bis ans Ende der Welt.“ Und das bedeutet auch: über das Ende der Volkskirche hinaus. Mehr brauche ich eigentlich nicht. Verdammt spannend bleibt es doch.

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M. Bokelmann (Öffentlichkeitsreferent)

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