einwort

einwort ist das Magazin der Evangelischen Kirchengemeinde Bottrop. Für jede Ausgabe wählen wir ein Wort, dessen Breite und Länge und Tiefe und Höhe wir ausloten. Wir glauben, dass ein Wort die Seele gesund machen kann. Auf der Suche nach den richtigen Wörtern erzählt einwort von Gott und der Welt. Denn am Anfang von allem war das Wort, und das Wort war bei Gott.

Waffenstillstand

von Ev. Kirchengemeinde Bottrop

"Ich hatte damals eigentlich nur einen Wunsch: Ich wollte Busfahrerin werden, aber das hat nicht geklappt, weil ich wusste, dass man dafür ärztliche Untersuchungen braucht und einen Führerschein, irgendwie wurde das nichts.“ Ein offenes Gesicht blickt mich an, die weichen Züge formen ein sympathisches Lächeln, die Worte sind klar und leicht. Vor mir sitzt eine Frau, mit der ich im Vorfeld geschrieben habe, mit der ich telefonierte und die mich irgendwann zu diesem Gespräch einlud. Also fahre ich nach Moers und treffe Christina Mahlmann (34)* in ihrer Wohnung. Neben ihr sitzt eine Freundin, der Lebensgefährte kümmert sich um drei umherflitzende Kinder. Gleich geht er mit ihnen spazieren. Kleine Fotos von Freunden und der Familie bieten etwas Abwechslung auf den weißen Wänden. Bunte Stofftiere säumen die Couch, der Fernseher läuft. Wir setzen uns. Und Christina Mahlmann beginnt ohne Umschweife zu erzählen. Sie erzählt von ihrem Leben, der Familie, von den ersten Symptomen und damit von ihrer bisweilen unheimlichen Reise durch eine oftmals tatsächlich schwarzweiße Zeit.

Fatale Aufgabenverteilung

„Ich habe ganz am Anfang, mit 13, als ich noch nicht wusste, was mit mir los war, damit angefangen, mich selbst zu verletzen. Wenn ich angespannt oder traurig war oder Stress mit Leuten hatte, die mir nahestanden, dann habe ich mich geschnitten – das ist, was man Ritzen nennt.“ Es gibt für Christina einen Auslöser – den Tod des Onkels. Er war ihre Vertrauensperson, das Zentrum. Die Eltern arbeiteten auf der Kirmes, er gab ihr Halt. Die Mutter verfiel nach dem Tod des Bruders in eine Depression und konnte Christina und ihre jüngere Schwester nicht mehr stützen. Also kümmerte sich die 13-Jährige um ihre kleine Schwester und die Mutter gleichermaßen. Essen kochen, Hausaufgaben überprüfen – eine zweifelhafte Welt für die Heranwachsende. Der Vater bekam davon zunächst nichts mit, und als er es irgendwann doch bemerkte, trennte er sich von seiner Familie. In dieser Zeit begannen die ersten Schnitte. „Meine Eltern haben durch meine Vertrauenslehrerin erfahren, dass ich mich selbst verletze, waren auch mit mir bei Kinder- und Jugendpsychologen. Viel geholfen hat es nicht.“

*Name von der Redaktion geändert

Detailblick

Ein zweiter Besuch, diesmal in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LWL Klinik Marl-Sinsen, rahmt diese Geschichte ein. Dort hat man sich bereits vor Jahren auf die Behandlung der Borderline-Störung bei Jugendlichen spezialisiert. Gemeinsam mit der Stationsärztin Lena Berning startet die Oberärztin Christine Lawaczeck-Matkares einen Erklärungsversuch, worum es bei der Borderline-Störung eigentlich geht. Offenbar erleben BorderlinerInnen eine hohe Intensität an Gefühlen und Stimmungen. Zugleich gibt es starke Schwankungen in den Emotionen, im Selbstbild und in der Stimmung. Das vielzitierte Leben in schwarzweiß. Häufig kommt dann noch eine starke Impulsivität dazu. „Diese Verdichtung an Gefühlen löst eine hohe Anspannung bei den PatientInnen aus, die kaum auszuhalten ist und damit natürlich als große Belastung empfunden wird. Symptome in der Störung führen dann leider zu dysfunktionalen Verhaltensweisen, wie die Selbstschädigung oder Selbstverletzung, um diese hohen Anspannungszustände irgendwie auszuhalten oder sogar zu reduzieren“, erklärt Lawaczeck-Matkares. Seit vielen Jahren kümmert sie sich um diese Persönlichkeitsstörung bei Jugendlichen und erklärt weiter, dass – je nach Studienlage – zwischen drei und sechs Prozent aller Menschen eine Borderline-Störung besitzen. Das sind rund 3,5 Millionen Menschen. Damit handelt es sich um eine der häufigsten psychischen Erkrankungen überhaupt, deren Behandlung im Jahr rund vier Milliarden Euro kostet.

Selbsthass pur

Mit dem Tod des Onkels kam die Trauer, dazu die Pubertät, obendrein das Mobbing in der Schule. Christina Mahlmann war schon als Kind übergewichtig und wurde gehänselt – so nannte man das früher. „Im Sport wurden mir Bälle an den Kopf geworfen, im Schwimmunterricht wurde ich unter Wasser gezogen. Und die Lehrerin, die wir hatten, wurde von den Zehntklässlern selbst immer geärgert, an den Haaren gezogen und mit Kaugummi beworfen.“ Sie wechselte die Hauptschule, machte ihren Schulabschluss und jobbte dann – wie ihre Eltern – auf der Kirmes. Zwischen Entenangeln, Kinderkarussell und Süßwaren stand eine junge Frau, die heute von sich sagt, dass sie sich damals gehasst hat. Es vergingen Monate, Jahre, sie lernte einen jungen Mann kennen und wurde mit 18 schwanger. Sie alle, die Mutter, die kleine Schwester, der Vater der Neugeborenen und Christina selbst lebten nun gemeinsam in der Wohnung der Mutter. Die Situation eskalierte und neben den Selbstverletzungen kamen nun auch drei Suizidversuche dazu und damit der endgültige Schritt in die Psychiatrie. Und hier endlich bekam sie ihre Diagnose: Borderline-Störung.

Die Chemie des Schmerzes

Es gibt nicht die eine Selbstschädigung bei einer Borderline-Störung. Tatsächlich gibt es Menschen, die sich mit scharfen Messern verletzen (ritzen), andere greifen zu Drogen und/oder Alkohol, manche fahren lebensgefährlich-exzessiv Auto, wieder andere leben eine extrem wechselhafte Sexualität (Promiskuität) aus. In allen Fällen geht es um Selbstschädigung. „In der Situation wird der Schmerz gar nicht empfunden. D. h., wenn die Verletzung erfolgt, gibt es keinen plötzlichen Schmerz, stattdessen lösen die Endorphine ein regelrechtes Glücksgefühl aus. Der Schmerz kommt erst später. Die Patienten erleben also erst einmal eine Entlastung und keine zusätzliche Belastung“, weiß Stationsärztin Lena Berning. Die Belastung kommt danach und ist von Schuld- und Schamgefühlen geprägt, weil klar ist, dass die Selbstverletzung schadet. Ein Kreislauf.

Kehrtwende

Christina Mahlmann trennt sich vom Vater ihres Kindes und macht eine für Borderline-PatientInnen entwickelte Verhaltenstherapie. Diese Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) verbindet klassische Ansätze der Verhaltenstherapie und weitere Elemente, vor allem aus dem Zen-Buddhismus, aber auch Fragmente aus der Gestalttherapie, körperorientierten Verfahren und der Hypnotherapie. Es geht um Achtsamkeit, den Umgang mit Gefühlen, zwischenmenschliche Fertigkeiten, Stresstoleranz und Selbstwert. Ein allumfassender Ansatz. „Ich habe dort echte Skills gelernt und auch, wie ich mich wahrnehme, reflektiere und mit anderen kommuniziere“, erklärt Mahlmann die Therapie. Und die war gut, aber irgendwann vorbei und dann stand sie wieder vor den Scherben ihres Alltags. In einer Selbsthilfegruppe fand sie schließlich den Halt, den sie so lange gesucht hatte. Jetzt endlich zieht das Leben an. Sie besucht ein Bewerbungstraining, erklärt dort einem Juristen, was sie schon immer werden wollte und plötzlich öffnen sich Wege. 2016 machte sie den Busführerschein und ist nun wirklich das, was sie immer sein wollte. Busfahrerin in Festanstellung.

Leben mit schwarzweiß

Happy End? Fast. Die Borderline-Störung ist therapierbar, je früher desto besser. Aber es bedarf weiterer Forschung und altersübergreifender Studien. Die Borderline-Störung hat mehr Aufmerksamkeit verdient, weil nicht nur die motivierten Therapeuten zeigen, dass es einen Ausweg gibt, auch wenn die Symptomatik der Borderline-Störung im Laufe des Älterwerdens zwar abnimmt, aber nie verschwindet. „Ich sage zu meiner Therapeutin immer: Ich habe mit mir einen Waffenstillstand, der seit ein paar Jahren relativ erfolgreich ist. Ich mag mich in vielen Situationen immer noch nicht besonders, aber ich mache mich nicht mehr so fertig wie früher“, schließt Christina Mahlmann. Sie lächelt, die blasse Haut hat sich rosa gefärbt, die Augen strahlen. Diese Frau hat ihren Erfolg mehr als verdient. So wie alle BorderlinerInnen.

„Ich sag zu meiner
Therapeutin immer:
Ich habe mit mir einen
Waffenstillstand ...“

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