einwort

einwort ist das Magazin der Evangelischen Kirchengemeinde Bottrop. Für jede Ausgabe wählen wir ein Wort, dessen Breite und Länge und Tiefe und Höhe wir ausloten. Wir glauben, dass ein Wort die Seele gesund machen kann. Auf der Suche nach den richtigen Wörtern erzählt einwort von Gott und der Welt. Denn am Anfang von allem war das Wort, und das Wort war bei Gott.

Ich sollte eine Carola werden!

von Ev. Kirchengemeinde Bottrop


Ein halbes Jahrhundert steht im Personalausweis Rainer Zeh.
Im Sommer 2022 wird aus Rainer eine Renée: die Wiederauferstandene.
Über das neue Leben als Frau.

Die Fingernägel sind lackiert, die Ohrringe dezent. Lippenstift, Kajal, die Haare leuchtend grau. Renée Zeh strahlt eine zurückhaltende Ruhe aus, lächelt leicht. Die 53-Jährige hat ein Leben gelebt, das kaum vorstellbar ist. Eines voller Irritation, Verstecken, Lügen und Angst. Und eines, das so üblich war wie nur irgend möglich. Renée, die Transgenderfrau aus Kirchhellen, die sich spät entschied, nicht mehr warten zu wollen, um endlich das Leben zu leben, das immer in ihr war. Schon damals, als 10-Jähriger schminkte die Cousine den kleinen Rainer nur zum Spaß, und der genoss in vollen Zügen. Einmal Frau sein, wenigstens so aussehen. Das muss doch toll sein. „Mit 13 oder 14 fand ich, ehrlich gesagt, alles interessanter, was die Mädchen machten”, erinnert sie sich. Und die Erinnerung geht noch weiter zurück. Heute scheint es ein Schlüsselmoment zu sein, damals war es bloß eine Szene im Leben des Zehnjährigen. Es ist Karneval in Kirchhellen, die Eltern bringen ihrem Rainer Mädchensachen zum Verkleiden mit. Er zieht sich um und die Verwandtschaft erstarrt: „Guck mal, da ist doch eure kleine Carola!”, sagen sie und meinen, dass die Eltern sich immer ein Mädchen gewünscht haben. „Danach wurde mir richtig klar, was eigentlich mit mir los war. Oder besser: Was ich eigentlich bin.”

Ein halbes Jahrhundert anders

Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland rund 770.000 transsexuelle Menschen leben. Menschen, die sich dem entgegengesetzten Geschlecht zugehörig fühlen und entweder eine Geschlechtsumwandlung planen oder diese bereits durchgeführt haben. Das klingt einfacher als es ist, formal wie psychisch, denn in der Regel geht diesem Weg eine Phase der Selbstfindung voraus, die niemals in ein Zeitschema passt. Sie kann Jahrzehnte dauern oder Monate. Bei Renée Zeh dauerte sie ein halbes Jahrhundert. „Als meine Eltern damals das Haus verließen, habe ich mich an Mutters Kleiderschrank bedient und natürlich peinlich genau darauf geachtet, dass danach dort alles wieder so hing wie vorher”, erzählt sie. Dabei schmunzelt sie, beinahe wie ein bisschen ertappt, und erklärt doch weiter, dass sie wusste, dass sie anders war. Er anders war. Dieses Gefühl trug sie sicher in sich und verriet es niemandem, die Zeit war einfach nicht reif dafür.

Das Lebensgeheimnis

Es folgten eine Ausbildung zum Elektroanlageninstallateur und eine erste Freundin, weil man das eben so machte. Für sich, für die Eltern und auch für die Nachbarn. „Ich habe nicht nur innerhalb der Wohnung für Ordnung gesorgt, sondern habe mich auch nach außen immer prima dargestellt.” Die besonderen Gefühle blieben. Sie nennt es ihr Lebensgeheimnis. Wem sollte sie auch von der Fremden in sich erzählen? Wenn Personen vertrauenswürdig schienen und dann doch über Schwule, Lesben und die unfassbare Welt dazwischen ablästerten? Es blieb ihr – wie damals – der Karneval. Das war der Freiraum, den sie gekonnt ausfüllte. So gut, dass man sie kaum erkannte. „Ich habe diese Tage total genossen und musste keine Angst haben. Ganz offiziell. Was für andere eine gute Verkleidung war, war für mich ein gewonnener Tag.” Trotzdem waren die Möglichkeiten sich auszuleben rar, und sie waren frei von Abenteuern mit anderen Transsexuellen. Darum ging es nie. Es ist eher die Geschichte einer Transfrau, die gut und gerne mit sich allein ist und einfach nur als Frau wahrgenommen werden will. Ganz normal. 27 Jahre war Rainer verheiratet, bis es nicht mehr ging. Dann kam die Trennung und dann das große Nichts.

„Als meine Eltern damals das Haus
verließen,
habe ich mich an Mutters
Kleiderschrank bedient ...“

Es ist dein Leben

Wie lebt man dieses Leben, das seit jeher als Wunschbild existiert und nun so greifbar wird? Sie wusste es nicht. Tagelang saß sie in ihrem Garten und war leer. Es war der Corona-Sommer 2021, der vieles veränderte. Für Renée Zeh war nun alles vorbei und alles möglich. „Und dann habe ich im Onlinehandel erst einmal eingekauft und meinen Kleiderschrank erneuert. Was nun dort hing, gehörte nur mir, und es durfte hängen bleiben.” Sie begann sich dezent zu schminken, und niemand bemerkte es. Sie schminkte sich stärker, kleidete sich weiblicher und hoffte, dass man sie ansprach. Aber die Reaktionen blieben aus. Im März 2022 schließlich das Outing. Sie rechnete mit Widerstand und Verwunderung und erntete Verständnis und Offenheit. „90 Prozent aller Leute, die ich informierte, sagten dasselbe. Als hätten sie sich abgesprochen: Du musst glücklich werden! Es ist dein Leben! Da hat niemand drüber zu urteilen! Das war fast unheimlich, aber so war es eben.”

Ein bisschen Mann bleibt

Seit dem Frühjahr 2022 zeigt sich Renée Zeh nun in der Öffentlichkeit so, wie sie sich auch fühlt – als Frau. Und es gibt kein Zurück mehr. Kein Verstecken. Keine Geheimnisse. Es könnte das Happy End sein. Und in gewisser Weise ist es das auch, bloß zu Ende ist diese Geschichte noch nicht. Denn jeden Tag erinnert sie sich daran, wer sie einmal war. Schminke, Kleidung und eine Frisur aus dem Damen-Salon sind schließlich nicht allein für die Weiblichkeit verantwortlich. „Ich weiß, dass ich nicht so richtig nach ihm und auch nicht nach ihr aussehe. Aber es wird von Woche zu Woche besser”, sagt sie. Renée war halt 52 Jahre ein Rainer, so schnell wechselt man sein Geschlecht nicht. Apropos: Die Geschlechtsumwandlung ist auch ihr erklärtes Ziel. Dazwischen liegt jedoch eine mehrmonatige Hormontherapie, die den Körper bereits massiv beeinflusst und zur Weiblichkeit formt. Der Bartwuchs kommt zum Erliegen, die Brüste wachsen, die Taille wird schmaler, die Gesichtszüge verändern sich. „Zu 100 Prozent bekommt man den Mann aber nie raus. Jedenfalls nicht, wenn man so spät damit startet wie ich.”

Fast eine Biofrau

2020 wurden in deutschen Krankenhäusern 2.155 Geschlechtsumwandlungen durchgeführt, wobei die Wandlung vom Mann zur Frau irritierend realistische Ergebnisse formt. Äußerlich ist die Transgenderfrau anschließend kaum noch von einer Biofrau, wie sie die natürlichen Frauen nennt, zu unterscheiden. Bleibt das letzte intime Geheimnis, mit dem Renée Zeh aber genauso offen umgeht wie mit ihrem gesamten Outing: Wenn nach der Angleichung ein neuer Partner in ihr Leben treten würde, was wäre es dann? „An meiner Sexualität hat sich ja nichts geändert. Ein neuer Partner wäre eine Partnerin. In diesem Sinne wäre ich wohl lesbisch.”

Die Wiederauferstandene

Seit dem Sommer 2022 ist Renée Zeh ganz formal eine Frau. Auf ihrem Ausweis, bei der Renten- und Krankenkasse, bei Geldinstituten, auf dem Führerschein. Selbst ihre erste automatisierte Einladung zur Mammografie hat sie bekommen. Die Kette fällt derweil locker ums Dekolleté. Und später geht sie noch zur Maniküre. Es ist längst keine Verkleidung mehr, jetzt ist es ihr wahres Leben als Wiederauferstandene. Und dass der weibliche Name Carola eigentlich „der Mann” bedeutet, konnte ja niemand wissen.

Zur Nachrichten-Übersicht

einwortAktuell

zum Download der Zusammenfassung aller Daten, Fakten und Servicehinweise gelangen Sie hier...

Sie möchten rechtzeitig über das Erscheinen von einwortAktuell informiert zu werden, dann können Sie hier unseren

Newsletter abonnieren

einwort-Archiv

Herausgeber:
Evangelische Kirchengemeinde Bottrop

V.i.S.d.P.:
Pfarrerin L. Krengel

Redaktion:
Pfarrerin L. Krengel,
M. Bokelmann (Öffentlichkeitsreferent)

Fotografie:
M. Bokelmann

Design & Satz:
M. Holtkamp / www.firestone-design.de