einwort

einwort ist das Magazin der Evangelischen Kirchengemeinde Bottrop. Für jede Ausgabe wählen wir ein Wort, dessen Breite und Länge und Tiefe und Höhe wir ausloten. Wir glauben, dass ein Wort die Seele gesund machen kann. Auf der Suche nach den richtigen Wörtern erzählt einwort von Gott und der Welt. Denn am Anfang von allem war das Wort, und das Wort war bei Gott.

Liebes (digitales) Tagebuch…

von Ev. Kirchengemeinde Bottrop

Wer eine schwere oder lebensverkürzende Krankheit hat,
setzt sich zumeist im persönlichen Umfeld damit auseinander.
Oder tut das genaue Gegenteil und spricht darüber ganz digital bei
Facebook, Instagram oder in Blogs. Warum?

 

Auf ihrem Facebook-Profil begrüßt Antonina Rick den Besucher mit einem kreisrunden Portrait, auf dem sie mit langer roter Lockenmähne glänzt. Eine hübsche junge Frau voller Lust am Leben. Und mit einer schweren Blutkrebsdiagnose. Scrollt man die Seite nur ein wenig herunter, sieht man sie mit Schläuchen im Arm und mit chemokurzen Haaren. Der Blutkrebs, mein Leben und ich heißt ihr Facebookprofil. Genauso wie ihr Blog. Zwei parallel digitale Wege – der eine kurz und knackig (Facebook), der andere tiefgründig (Blog). Sie hat sich im Sommer 2019 für diesen öffentlichen Weg entschieden, nachdem die erste Knochenmarks-Transplantation fehlschlug und sie nun wusste, dass sie vielleicht nur noch ein Jahr lebt. Es war der Startschuss für eine schonungslose und nie boshafte Klarheit in Worten und Bildern. Auch weil es offenbar schwierig war, Informationen über die Krankheit, ihren Verlauf, über die Chemo und so viel mehr zu bekommen. Auch wollten die Ärzte mit ihr nur ungern in die direkte Konfrontation gehen und genau erklären, wie ihre gesundheitliche Situation aussieht.

Vieles musste sie sich also erarbeiten, und darum geht es ihr in ihrer digitalen Arbeit um Aufklärung und Information. „Ich habe nicht nur darüber geschrieben, was die Leukämie grundsätzlich macht, sondern auch, wie mein Tag aussieht, wie meine Amtsgänge aussehen und wie man das alles finanziell regelt. Da macht sich doch niemand Gedanken drüber. Bei einer Knochenmarks-Transplantation ist man außerdem zwei Monate im Krankenhaus. Wer macht in der Zeit den Haushalt? Wer kümmert sich um den Postkasten? Und: Nach so einer Transplantation muss man in eine komplett sterile Wohnung. Aber wer kümmert sich darum? Die Krankenkasse bestimmt nicht.“ Genau – wer kümmert sich darum? Über 6.500 Facebooknutzer haben ihre Seite mittlerweile abonniert. Die kümmern sich darum. Zumindest zum Teil.

Digitaler Alphabetisierungsschub

„Die Entwicklung der Sozialen Medien sorgt wie ein zweiter Alphabetisierungsschub dafür, dass heute sehr viel mehr Menschen über ihr Schicksal schreiben als früher. Das ist literarisch manchmal unvollkommen, aber da kann man nur sagen: So what! Auch die ersten Texte und Tagebücher, die die Menschen nach dem ersten Alphabetisierungsprozess in der Mitte des 19. Jahrhunderts verfasst haben, waren nicht automatisch hohe Literatur. Und dennoch stöbern wir heute gerne durch diese alten Tagebücher und verwenden sie als Primärliteratur für historische Untersuchungen“, erklärt Prof. Dr. Thomas Macho, Leiter des internationalen Forschungszentrums der Kulturwissenschaften in Wien. Er hat dieses Phänomen der digitalen Selbstpräsentation in schwierigsten persönlichen Zeiten untersucht und fand heraus, dass für religiös wenig oder nicht verankerte Menschen die Sinnfragen des Lebens heute nur noch schwer zu beantworten sind.

Während die eine Hälfte der Deutschen einer der beiden großen Konfessionen angehört und so im christlichen Selbstverständnis Halt und Orientierung findet, suchen die anderen noch. Vielleicht auch, indem sie ihren (Leidens-) Weg digitalisieren. „Eine Ersatzantwort ergibt sich nun daraus, das eigene Leben als ein Ganzes, als eine Geschichte zu betrachten und zu erzählen, wobei ein solches Bedürfnis eher am Ende eines Lebens auftritt.“ Auch wenn das Leben oftmals Wendungen, Brüche und Verluste aufweist, so entsteht in der Zusammenfassung offenbar ein Gesamtbild, das etwas merkwürdig Tröstliches hat. Nach dem Motto: Ach, es hat sich doch gelohnt!

Digital wird analog

„Meine Oma findet das nicht so gut, dass ich das mache. Krankheiten hält man unter‘m Deckel. Man erzählt nicht, wie schlecht es einem geht und welche Gefühle man hat. Dabei hilft es mir, meine Dinge im Kopf zu sortieren, niederzuschreiben und mich so mit meinen eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen. Und nicht zuletzt ist die Resonanz von der Community großartig“, erzählt Rick. Kurz bevor sie nach der ersten Transplantation ihre beiden Kinder endlich aus der Pflegefamilie zurückholen wollte, verschlechterten sich ihre Blutwerte massiv. Ein gesundheitlicher Super-GAU. Und dann musste sie auch noch aus ihrer Wohnung raus. Irgendwie schaffte sie es, auch dieses Drama zu organisieren, und doch ließen mittendrin die Kräfte nach. Die junge Frau hat dieses Drama in ihrem Blog formuliert und dann kamen über Nacht 40 Personen aus ganz Deutschland und zogen mit ihr um, packten Kisten, bauten Möbel auseinander und zusammen, sammelten Spendengelder, fuhren von A nach B und richteten ihr Leben neu ein. Eine Riesenaktion, die digital begann und im Hier und Jetzt wahr wurde.

So flüchtig die digitalen Medien daherkommen und so oberflächlich Kommunikation dort sein kann, Facebook & Co. können offenbar auch das genaue Gegenteil bewirken. Schließlich gibt es weltweit etwa 2,5 Milliarden aktive Facebooknutzer. Hier findet – allen Unkenrufen zum Trotz – auch echtes Leben statt. Solange man lebt. Schätzungen zufolge sind nämlich spätestens im Jahr 2060 die Hälfte aller Nutzer tot und grüßen dennoch mit leuchtendem Profilbild. Wenn man von dem sehr spekulativen Ansatz ausgeht, dass es in 40 Jahren Facebook überhaupt noch gibt. Aber noch ist es ja da.

Buch bleibt

Bevor Soziale Netzwerke den Weg für den weltweiten Individualtext ebneten, war ein Autor ans Buch gebunden, um gelesen zu werden. Es ist bis heute auch ein Generationenthema, wer welche Medien bevorzugt. Und viele greifen eben lieber zum gedruckten Buch. Die Düsseldorfer Autorin Susanne Reinker erkrankte 2007 an Brustkrebs und erlebte, was viele Frauen mit dieser Diagnose durchstehen: OP, Chemo- und Strahlentherapie, gefolgt von einer fünfjährigen Hormontherapie.

Heute bezeichnet sie sich als Krebsveteranin und veröffentlichte erst 2019 im Ullstein-Verlag ihr Buch Kopf hoch, Brust raus!. „Wer heute Krebs hat, muss nicht nur mit den schrecklichen Zellen kämpfen, sondern obendrein auch mit dem schlimmen Image, das dieser Krankheit anhaftet: Nach dem Motto: Diagnose, Chemo, Glatze, Rückfall, Tod. Ein Image, das aus der Frühzeit der Krebstherapie stammt. Darum ist es für mich eine ganz große gesellschaftliche Aufgabe, die Krankheit mit meinem Buch aus der Horrorecke zu kriegen.“ In 36 kurzen Kapiteln, von A wie „Arzt“, über E wie „Erste-Hilfe-Maßnahmen“ und K wie „Krankenhausbesucher“ bis Z wie „Zweitmeinung“. Sehr fundiert, durchaus humoristisch und ganz schön analog. Dass das Buch nun auch als Hörbuch auf den Markt kommt und zudem als E-Book erhältlich ist, ist vielleicht ihre ganz persönliche Reminiszenz an die Gegenwart digitaler Medien. „Ich bin mit 57 Jahren auch echt kein Digital Native. Als ich erkrankte, gab es in Deutschland nicht mal Facebook, das kam erst zwei Jahre später.“ Sieben Bücher hat sie mittlerweile geschrieben, eins landete auf der Spiegel-Bestseller-Liste. Und selbstredend gehen – themenunabhängig – analoge und digitale Medien Hand in Hand durch die Gegenwart. Gut so.

Keine Alternative

Antonina Rick schreibt derweil weiter an ihrem digitalen Tagebuch. Wie ist das also, als junger Mensch mit der Gewissheit zu leben, dass der Tod eine Rolle spielt, und diese Gewissheit tagaus tagein zu posten? „Meine Überlebenswahrscheinlichkeit liegt bei 11 Prozent. Stell dir also vor, du musst Russisch Roulette spielen! Nimmst du dann nicht lieber die Kanone mit den neun Kugeln und der einen freien Position als die volle Pistole mit den 10 Kugeln? Ich habe einfach keine Alternative. Ich muss leben und hoffen. Und genau darüber schreibe ich. Für meine Kinder, meine Community und auch für mich.“

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